Im Rahmen der Studierenden-Sozialerhebung 2019 wurden Studierende mit Behinderung und gesundheitlicher Beeinträchtigung in einer Zusatzerhebung zu ihrer Situation im Studium befragt (vgl. Zaussinger et al. 2020). Diese Spezialstudie (die sechste dieser Art seit 2002) ist die einzige Datenquelle zu dieser unterrepräsentierten Studierendengruppe, da in der Hochschulstatistik keine Angaben zur Dimension Behinderung bzw. gesundheitlicher Beeinträchtigung erfasst werden.
Tabelle 7.3.6-1: Anteil Studierender mit studienerschwerender Beeinträchtigung an allen Studierenden nach soziodemografischen Merkmalen im Zeitvergleich
2009 Anteil | 2009 Anzahl | 2011 Anteil | 2011 Anzahl | 2015 Anteil | 2015 Anzahl | 2019 Anteil | 2019 Anzahl | |
Geschlecht | ||||||||
Frauen | 15,5% | ca. 22.300 | 13,1% | ca. 21.100 | 12,5% | ca. 21.200 | 13,6% | ca. 23.500 |
Männer | 12,3% | ca. 15.200 | 11,1% | ca. 15.400 | 10,5% | ca. 15.500 | 10,6% | ca. 15.600 |
Alter |
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Unter 21 Jahren | 12,1% | ca. 3.800 | 10,0% | ca. 3.400 | 9,0% | ca. 3.400 | 9,8% | ca. 3.500 |
21 bis 25 Jahre | 13,5% | ca. 16.900 | 10,6% | ca. 14.600 | 10,2% | ca. 14.200 | 10,7% | ca. 15.300 |
26 bis 30 Jahre | 15,4% | ca. 10.200 | 13,9% | ca. 10.400 | 12,8% | ca. 9.600 | 13,7% | ca. 10.600 |
Über 30 Jahre | 14,7% | ca. 6.600 | 15,1% | ca. 8.200 | 14,8% | ca. 9.600 | 15,3% | ca. 9.700 |
Hochschulsektor |
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Wiss. Universitäten | 14,5% | ca. 32.200 | 12,7% | ca. 31.300 | 12,2% | ca. 30.200 | 13,1% | ca. 29.600 |
Kunstuniversitäten | 17,0% | ca. 1.200 | 17,0% | ca. 1.400 | 17,8% | ca. 1.300 | 16,1% | ca. 1.400 |
Privatuniversitäten | - | - | - | - | 9,9% | ca. 700 | 9,5% | ca. 1.000 |
FH | 10,6% | ca. 3.200 | 8,2% | ca. 2.800 | 8,3% | ca. 3.300 | 8,9% | ca. 4.400 |
PH | 10,0% | ca. 800 | 9,0% | ca. 1.000 | 8,4% | ca. 1.200 | 7,7% | ca. 700 |
Lehrverb. | - | - | - | - | - | - | 12,5% | ca. 2.000 |
Gesamt | 14,1% | ca. 37.500 | 12,2% | ca. 36.500 | 11,6% | ca. 36.800 | 12,2% | ca. 39.100 |
Inkl. Doktoratsstudierende. Hochgerechnete und gerundete Schätzung auf alle Stud. jeweils zum Befragungszeitpunkt. 2015 und 2019 anders als 2009 und 2011 inkl. Privatuniv., Lauder Business School sowie KPH Edith Stein Innsbruck
Quelle: Studierenden-Sozialerhebung 2009, 2011, 2015, 2019
Demnach haben 12% aller Studierenden in Österreich nach eigenen Angaben eine oder mehrere studienerschwerende Beeinträchtigung/en; das kann eine Behinderung, eine chronische, psychische oder sonstige längerdauernde Erkrankung oder eine Teilleistungsstörung (z.B. Legasthenie, Dyslexie, Dyskalkulie etc.) sein. Die auf alle Studierenden hochgeschätzte Absolutzahl liegt bei rund 39.100 Studierenden, die durch ihre gesundheitliche/n Beeinträchtigung/en oder Behinderung im Studium eingeschränkt sind (Tabelle 7.3.6-1).
Die häufigsten Schwierigkeiten, mit denen sich Studierende mit Behinderung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen konfrontiert sehen, sind unvorhergesehene Studienunterbrechungen (etwa durch Krankheitsschübe), der Modus und zeitliche Vorgaben bei Prüfungen, Abgabefristen und die Studienorganisation (z.B. Anwesenheitspflicht, Anmeldeverfahren, Prüfungsdichte), aber oft auch der Umgang mit der Beeinträchtigung im Studienalltag (z.B. fehlendes Verständnis seitens der Lehrenden). Bei einem Großteil der betroffenen Studierenden ist die Beeinträchtigung von anderen nicht ohne Weiteres wahrnehmbar, dazu zählen insbesondere psychische sowie chronisch-somatische Erkrankungen. Die größte Gruppe der Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen gibt an, durch eine psychische Erkrankung in ihrem Studium eingeschränkt zu sein. Der Anteil der Studierenden mit psychischer Erkrankung ist seit der Erhebung 2015 am stärksten angestiegen. Der Anteil der Studierenden, deren Behinderung amtlich eingestuft ist (Behindertenpass), ist niedrig (0,6% aller Studierenden).
Maßnahmen der Universitäten und gesetzliche Rahmenbedingungen
An allen Universitäten gibt es eine Ansprechperson für Studierende mit Behinderung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. An einigen Universitäten ist diese Thematik bereits in Form einer Organisationseinheit institutionalisiert (vgl. Wroblewski et al. 2020). Dazu zählen die Universität Wien (Team Barrierefrei), die Universität Graz (Zentrum Integriert Studieren), die Universität Innsbruck (Büro der Behindertenbeauftragten), die Universität Salzburg (Abteilung für disability & diversity), die Universität Linz (Institut Integriert Studieren), die Universität Klagenfurt (Servicecenter Integriert Studieren), die Technische Universität Wien (TUW barrierefrei), die Technische Universität Graz (Servicestelle Barrierefrei Studieren), die Wirtschaftsuniversität Wien (Team BeAble), die Universität für Bodenkultur Wien (Stabsstelle zur Betreuung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen), die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (Team Barrierefrei) sowie die Medizinischen Universitäten Wien (Behinderten-Referat) und Graz (Servicestelle für Mitarbeiter*innen und Studierende mit Behinderungen und/ oder chronischen Erkrankungen). In der laufenden LV-Periode 2019–2021 haben auch alle Universitäten in ihren Leistungsvereinbarungen Maßnahmen für Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Behinderungen formuliert. Damit leisten die Universitäten einen Beitrag zur Umsetzung der im Artikel 24 (5) der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung geforderten gleichberechtigten Teilhabe im tertiären Bildungsbereich. Das UG normiert, dass die Studienpläne die Zielsetzungen von Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention zu beachten haben. Das bedeutet, bei der Gestaltung von Curricula ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht vom Studium ausgeschlossen werden. Für Studierende mit einer Behinderung sind die Anforderungen der Curricula – allenfalls unter Bedachtnahme auf beantragte abweichende Prüfungsmethoden – durch Bescheid des studienrechtlichen Organs zu modifizieren, wobei das Ausbildungsziel des gewählten Studiums erreichbar sein muss (§ 58 Abs. 10 und 11 UG). Für Studienwerberinnen und Studienwerber für ein Lehramtsstudium gilt, dass vom Nachweis jener Eignungskriterien Abstand zu nehmen ist, die bei Erfüllung der wesentlichen Anforderungen für den angestrebten Beruf aufgrund einer Behinderung nicht erfüllt werden können. Bei Bedarf sind im Rahmen des Eignungsfeststellungsverfahrens geeignete Ausgleichsmaßnahmen, insbesondere (Sprach-)Assistenz, vorzusehen (§ 65a Abs. 3 UG). Im Studium haben Studierende ein gesetzlich verankertes Recht auf eine abweichende Prüfungsmethode, wenn aufgrund einer Behinderung oder Beeinträchtigung die Ablegung der Prüfung in der vorgesehenen Weise nicht möglich ist. Dies kann – ohne Inhalt und Anforderungen der Prüfung zu beeinträchtigen – eine schriftliche statt einer mündlichen Prüfung (oder umgekehrt) sein oder auch die
Spezielle Projekte der Universitäten
Die Servicestelle „GESTU – Gehörlos erfolgreich studieren“, räumlich und personell an der TU Wien verankert, serviciert alle gehörlosen und schwerhörenden Studierenden der Universitäten und Hochschulen am Standort Wien, d.h., sie organisiert Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdensprachdolmetscher, Tutorinnen und Tutoren sowie Mitschreibkräfte und sorgt für die technische und räumliche Infrastruktur. GESTU fungiert als zentrale Anlaufstelle, um hörbehinderten Studierenden einen barrierefreien Studienzugang zu ermöglichen. Weiters wird die sprachwissenschaftliche Weiterentwicklung (Fachgebärden) betrieben. GESTU gilt als Best-Practice-Beispiel und wird durch das BMBWF finanziert. Das BMBWF unterstützt auch den von der Universität Salzburg durchgeführten Universitätslehrgang „Dolmetschen und Übersetzen für Gebärdensprachen, Schriftdeutsch und Internationale Gebärde“ (ULG „MODUS“) finanziell. MODUS bietet gehörlosen Gebärdensprachbenutzerinnen und Gebärdensprachbenutzern einen chancengleichen und barrierefreien Zugang zu einer Ausbildung für Dolmetschen und Übersetzen. Seit 2019 wird der Lehrgang inklusiv geführt und steht somit auch hörenden Gebärdensprachbenutzerinnen und Gebärdensprachbenutzern offen. Seit dem Sommersemester 2018 können Studierende mit Beeinträchtigungen an der Universität Wien und der PH Niederösterreich im Rahmen des HRSM-Kooperationsprojekts „Individuelle Studienunterstützung für Studierende mit Beeinträchtigungen (ISU)“ individuelle Unterstützung durch Studierende der Lehramts-Spezialisierung „Inklusive Pädagogik (Fokus Beeinträchtigung)“ erhalten. ISU hat seitens des BMBWF eine Anschubfinanzierung erhalten und wird vom Team Barrierefreies Studieren der Universität Wien als Pilotprojekt umgesetzt. Das Projekt „Promotion ohne Limit – PromoLi“ möchte Menschen mit Behinderung bzw. chronischer Erkrankung, die ein Master- oder Diplomstudium absolviert haben, beim Einstieg in eine wissenschaftliche Karriere unterstützen. Neun Universitäten beteiligen sich an dieser Initiative der uniko, die vom BMSGPK gefördert wird. Im Jahr 2019 wurden Promotionsstellen speziell für den Personenkreis begünstigt Behinderter (im Sinne des § 2 Behinderteneinstellungsgesetz) ausgeschrieben und sieben Stellen mit Doktorandinnen und Doktoranden mit Behinderung/chronischer Erkrankung über das Projekt gefördert besetzt. Studierende mit Behinderung haben durch „PromoLi“ eine volle Teilhabe an einer künftigen wissenschaftlichen Karriere. Langfristiges Ziel ist die Schaffung von Promotionsstellen an möglichst allen österreichischen Universitäten mit befristeten Arbeitsverhältnissen bis zu vier (in Ausnahmefällen sechs) Jahren im Ausmaß von 20 bis 30 Wochenstunden und somit die Unterstützung von Absolventinnen und Absolventen mit Behinderung oder Beeinträchtigungen bei der beruflichen Integration im Wissenschaftsbetrieb bzw. in der qualifizierten Arbeitswelt. Einige Universitäten haben sich Barrierefreiheit und die Inklusion Studierender mit Behinderung und Beeinträchtigungen zum Ziel gesetzt. Dies strebt eine Veränderung der Organisation hin zu einer inklusiven Universität an und erfordert strukturelle Reformen über das Angebot an zielgruppenspezifischen Maßnahmen hinaus; ein Prozess, in den die Studierenden mit Behinderung oder Beeinträchtigungen einzubeziehen sind (vgl. Wroblewski et al. 2020).